Mythen der Nephrologie, Ep 2: „Wir müssen den Harnstoff runterdialysieren!“

In unserem 2. Teil der Serie Mythen der Nephrologie & der Inneren Medizin geht es um die Interpretation des Blutharnstofflevels. Hohe Harnstoffwerte werden im klinischen Alltag häufig mit Urämie gleichgesetzt. Dass dies nur sehr bedingt der Fall ist, möchte wir euch im Folgenden darlegen. Aber erst einmal ein Szenario aus dem klinischen Alltag, das einem als Dialyseärztin immer wieder begegnet:

Anruf von der Intensivstation. Dort liegt ein Patient mit unklarer Vigilanzminderung und akuter Nierenschädigung. Über die letzten 3 Tage ist der Harnstoff von 100 mg/dl auf 180 mg/dl gestiegen. Die Diurese ist gut (> 2L pro Tag). Das Kalium ist im Normbereich. Der pH ist ausgeglichen. Die betreuende Intensivmedizinerin möchte, dass ihr dem Patienten „einmal den Harnstoff runterdialysiert“. Denn die Vigilanzminderung könnte durch den hohen Harnstoff und damit durch eine urämische Enzephalopathie bedingt sein.

Unsere kurze Einschätzung als Dialyseärztin: Dialyse nur aufgrund des relativen hohen Harnstoffs durchzuführen ist nicht sinnvoll. Es lässt sich nahezu sicher ausschließen, dass die Vigilanzminderung durch den  Harnstoff bedingt ist.

Hintergrund: Harnstoff selbst ist kein (bzw. zumindest kein relevantes) Urämietoxin, sondern ein Surrogatparameter für andere Urämietoxine, die wir nicht direkt messen (und oft auch gar nicht messen können oder sogar gar nicht kennen). Bereits in einem Artikel aus dem  New England Journal of Medicine von 1981 mit dem Titel „Uremia and the BUN“ heißt es : “There is no evidence that a chronic isolated elevation of BUN to levels of 100 mg/dl is toxic in human beings” [1]. Dabei muss man wissen, dass man im angloamerikanischen Raum nicht von Harnstoff (=Urea) spricht, sondern von Blood Urea Nitrogen (BUN). Das entspricht dem im Harnstoff gebundenem Stickstoff. BUN muss mit dem Faktor 2,14 zu Harnstoff umgerechnet werden.

Der Artikel aus dem NEJM führt dabei als Beleg eine Studie an, in der Harnstoff dem Dialysat von Dialysepatient*innen zugeführt wurde [2].

“ It was not until a value in excess of 300 mg per 100 ml of urea was obtained that vomiting became a constant feature. Headaches usually occurred as well. Bleeding from cannula site, nasal and oral mucosa, and subcutaneous tissue occurred within a week of urea loading. Values in excess of 400 mg per 100 ml produced malaise and lethargy, but no somnolence, mental slowing, or depression. “

Weitere Evidenz gegen die Theorie, dass Harnstoff relevant zu urämischen Manifestationen, wie Thrombozytopathie, oder Enzephalopathie beiträgt, stammt von Patient*innen mit einer familiären Azotämie [3]. Dabei handelt es sich um eine seltene genetische Erkrankung mit gestörter Harnstoffclearance und dadurch chronisch erhöhten Harnstoffwerten jenseits der 200 mg/dl. Der genaue Mechanismus ist dabei ungeklärt. Außer, dass die Patient*innen in der Fallserie relativ klein gewachsen waren (150 cm), lagen keine gesundheitlichen Auffälligkeiten vor. Insbesondere eine Thrombozytopathie konnte durch mehrere Labortests definitiv ausgeschlossen werden [3].

Eine (grausame) Studie an Rhesusaffen von 1970 hat sich der urämischen Enzephalopathie angenommen [4]. Dabei wurden die Ureteren der Affen ligiert, sodass es zu einem anurischen postrenalen Nierenversagen kam. Ungefähr 7 Tage postoperativ und bei einem BUN von um 150 mg/dl (=Harnstoff >>300mg/dl) begannen die Affen signifikant schlechter bei täglich durchgeführten kognitiven Tests abzuschneiden. Eine Intervention in Form einer 24-stündigen Peritonealdialyse führte zu einem Wiederanstieg in der Testperformance, obwohl dem Dialysat massiv Harnstoff zugesetzt wurde, um das BUN Level über 200 mg/dl (entsprechend >428 mg/dl Harnstoff) zu halten [4].

Diese Studien zeigen, dass das Harnstofflevel nicht kausal für die Urämie ist, sondern lediglich hiermit korreliert. Wie gut ist aber diese Korrelation zwischen Harnstoff und Urämie bei Patient*innen mit chronischer Nierenschädigung wirklich? Schließt ein Harnstoffwert <220mg/dl urämische Symptome praktisch aus, wie man es oft liest und wie es in der Klinik vermittelt wird? Wie viele Patient*innen entwickeln Urämiesymptome bei einem Harnstoff zwischen 220 und 260mg/dl? Sind es eher 10%, oder eher 90%? Wie verhält es sich bei einem Harnstoff zwischen 260 und 300mg/dl? Leider fehlen Studien, die dies systematisch aufgearbeitet haben. Somit ist auch der diagnostische Wert der Harnstoffbestimmung letztlich unklar.

Auch der Autor des bereits erwähnten NEJM Artikels schrieb: “Patients with overt symptoms of uremia usually have a BUN of more than 100mg/dl” (entsprechend einem Harnstoff von >220mg/dl), ohne dafür Evidenz zu nennen. Für die gefürchtete urämische Perikarditis konnte ich ein paar Zahlen finden. In zwei aktuellen Fallserien mit jeweils knapp 30 Patient*innen mit Perikarditis bei präterminaler CKD lag das mittlere BUN bei 128mg/dl und 112mg/dl [5,6].

Eine Einschränkung gibt es: Die großen randomisierten Studien (IDEAL-ICU; STARRT-AKI), die einen frühen Dialysebeginn bei akuter Nierenschädigung auf der Intensivstation untersucht haben, nutzten einen Harnstoff-Cutoff von 220mg/dl als Sicherheitsschwelle, bei der die Dialyse in dem „Standard of Care“-Arm eingeleitet werden musste [7-9]. Diese Schwelle wiederum ist relativ arbiträr und basiert auf Beobachtungsstudien, sowie zwei kleinen klinischen Studien von 1975 und 1986 mit einmal 18 und 36 Probanden, die gezeigt haben, dass das Outcome bei einem Dialysebeginn bei Harnstoff >220mg/dl  schlechter war [10-12]. Aus heutiger Sicht ist diese Evidenz allerdings mehr als dürftig einzuschätzen.

Die kürzlich erschiene AKIKI-2 Studie hat untersucht, ob man bei Patient*innen mit AKI Stadium 3 und Oligurie/Anurie über 3 Tage und/oder einem Harnstoffwert >220mg/dl den Dialysebeginn verzögern kann [13]. Diese Patient*innen hat man in der IDEAL-ICU und STARRT-AKI direkt einer Dialysetherapie zugeführt. Die Patient*innen wurden zur sofortigen Dialyse oder zu einem verzögerten Dialysebeginn (Intervention) randomisiert. In dem Interventionsarm wurde erst bei Komplikationen des Nierenversagens (Lungenödem, Hyperkaliämie oder schwerer Azidose) oder aber bei einem Harnstoffwert von über 300mg/dl mit Dialyse begonnen.

Die AKIKI2 Studie ging insgesamt neutral aus. Es zeigte sich kein Nutzen für einen weiter verzögerten Dialysebeginn, wobei diese Studie klein und unterpowert für ihre Endpunkte war. Interessanterweise wurden knapp 60% in der Interventionsgruppe für die Indikation Harnstoff >300mg/dl an die Dialyse genommen und nicht für AKI-Komplikationen. Darüber hinaus zeigte sich eine Tendenz zu einer höheren Mortalität in dem Interventionsarm. Am Studiendesign wird vielfach kritisiert, dass oligurisch/anurische Patient*innen mit Patient*innen mit isoliert hohem Harnstoff bei guter Diurese in einen Topf geworfen wurden.

Die klinisch spannende Frage ist, was man mit AKI-Patient*innen auf der Intensivstation mit hohen Harnstoffwerten (220-300mg/dl) bei erhaltener Diurese und fehlender metabolischer Indikation macht. Aus meiner Sicht kann man hier durchaus abwarten.

Wer mehr zum Thema Dialysebeginn bei AKI bei kritisch Kranken wissen will, dem empfehle ich diesen Übersichtsartikel von #NephJC (https://www.nephjc.com/news/akiki-2).

Eine mögliche Komplikation, die man bei der Dialyse von Patient*innen mit sehr Harnstoffwerten im Auge behalten sollte, ist das Dialyse-Disäquilibrium-Syndrom: Wird der Harnstoff sehr schnell aus dem Blut entfernt (z.B. durch hohe Blutflüsse, zusammen mit High Flux Dialysefiltern) kann es zu einem Konzentrationsgradienten zwischen dem Blut und dem Gehirn kommen. Dies führt zu einem osmotischen Einstrom von freiem Wasser und dadurch im schlimmsten Fall zu einem schwersten Hirnödem mit Einklemmung [14]. Aus diesem Grund empfehlen aktuelle Guidelines, dass das BUN um max. 40% über 2 Stunden gesenkt werden sollte.

Wichtig ist außerdem zu wissen, dass die Nierenfunktion nicht allein über die Höhe des Harnstoffs entscheidet. Es gibt andere Faktoren, die isoliert das Harnstofflevel im Blut erhöhen können. Proteinreiche Ernährung führt zu höheren Harnstoffwerten. Ebenso lassen katabole Prozesse, wie Trauma, Infektionen, Steroidtherapie und gastrointestinale Blutungen Harnstoffwerte steigen.

Zusammenfassung & Take home messages:

  • Harnstoff selbst ist kein Urämietoxin, sondern ein Surrogatparameter für Urämietoxine. Urämische Thrombozytopathie und Enzephalopathie werden nicht durch Harnstoff ausgelöst.
  • Das Harnstofflevel sollte nie der alleinige Ausschlag für eine Dialyseeinleitung sein. Harnstoffwerte müssen im Kontext von Symptomen, Ernährung und anderen Erkrankungen interpretiert werden.
  • Urämie bei Harnstoffwerten <220mg/dl ist sehr unwahrscheinlich. Gleichzeitig sind auch viele Patient*innen mit Harnstoffwerten >>220mg/dl nicht urämisch.
  • In randomisierten Studien, die den Dialysebeginn bei akutem Nierenversagen auf der Intensivstation untersucht haben, wurde ein Harnstoffwert von 220mg/dl als „Sicherheitsschwelle“ zur Dialyseeinleitung verwendet.
  • Auf Basis der AKIKI2 Studie erscheint es nicht sinnvoll bis zu einem Harnstoffwert >300 mg/dl mit der Dialyseeinleitung zu warten.
  • Bei sehr hohen Harnstoffwerten sollte zur Vorbeugung eines Dialyse-Disäquilibrium-Syndroms an eine langsame Harnstoffreduktion (niedriger Blutfluss, Low-Flux Filter) gedacht werden.



Dieser Artikel unterlief einem Review durch PD. Dr. Susanne Kron, Oberärztin, Klinik m.S. Nephrologie u. Internistische Intensivmedizin, Charité Universitätsmedizin Berlin


1.         Luke RG. Uremia and the BUN. N Engl J Med. 1981;305(20):1213–5. doi:10.1056/NEJM198111123052010 Cited in: PubMed; PMID 7290133.

2.         Johnson WJ, Hagge WW, Wagoner RD, Dinapoli RP, Rosevear JW. Effects of urea loading in patients with far-advanced renal failure. Mayo Clin Proc. 1972;47(1):21–9.  Cited in: PubMed; PMID 5008253.

3.         Linthorst GE, Avis HJ, Levi M. Uremic thrombocytopathy is not about urea. J Am Soc Nephrol. 2010;21(5):753–5. doi:10.1681/ASN.2009111181 Cited in: PubMed; PMID 20360312.

4.         Teschan PE. Experimental Studies of Toxic Factors in Uremic Encephalopathy. Arch Intern Med. 1970;126(5):838. doi:10.1001/archinte.1970.00310110108017

5.         Bentata Y, Hamdi F, Chemlal A, Haddiya I, Ismaili N, El Ouafi N. Uremic pericarditis in patients with End Stage Renal Disease: Prevalence, symptoms and outcome in 2017. Am J Emerg Med. 2018;36(3):464–6. doi:10.1016/j.ajem.2017.11.048 Cited in: PubMed; PMID 29248269.

6.         Bataille S, Brunet P, Decourt A, Bonnet G, Loundou A, Berland Y, Habib G, Vacher-Coponat H. Pericarditis in uremic patients: serum albumin and size of pericardial effusion predict drainage necessity. J Nephrol. 2015;28(1):97–104. doi:10.1007/s40620-014-0107-7 Cited in: PubMed; PMID 24840780.

7.         Barbar SD, Clere-Jehl R, Bourredjem A, Hernu R, Montini F, Bruyère R, Lebert C, Bohé J, Badie J, Eraldi J-P, Rigaud J-P, Levy B, Siami S, Louis G, Bouadma L, Constantin J-M, Mercier E, Klouche K, Du Cheyron D, Piton G, Annane D, Jaber S, van der Linden T, Blasco G, Mira J-P, Schwebel C, Chimot L, Guiot P, Nay M-A, Meziani F, Helms J, Roger C, Louart B, Trusson R, Dargent A, Binquet C, Quenot J-P. Timing of Renal-Replacement Therapy in Patients with Acute Kidney Injury and Sepsis. N Engl J Med. 2018;379(15):1431–42. doi:10.1056/NEJMoa1803213 Cited in: PubMed; PMID 30304656.

8.         Bagshaw SM, Wald R, Adhikari NKJ, Bellomo R, da Costa BR, Dreyfuss D, Du B, Gallagher MP, Gaudry S, Hoste EA, Lamontagne F, Joannidis M, Landoni G, Liu KD, McAuley DF, McGuinness SP, Neyra JA, Nichol AD, Ostermann M, Palevsky PM, Pettilä V, Quenot J-P, Qiu H, Rochwerg B, Schneider AG, Smith OM, Thomé F, Thorpe KE, Vaara S, Weir M, Wang AY, Young P, Zarbock A. Timing of Initiation of Renal-Replacement Therapy in Acute Kidney Injury. N Engl J Med. 2020;383(3):240–51. doi:10.1056/NEJMoa2000741 Cited in: PubMed; PMID 32668114.

9.         Gaudry S, Hajage D, Schortgen F, Martin-Lefevre L, Pons B, Boulet E, Boyer A, Chevrel G, Lerolle N, Carpentier D, Prost N de, Lautrette A, Bretagnol A, Mayaux J, Nseir S, Megarbane B, Thirion M, Forel J-M, Maizel J, Yonis H, Markowicz P, Thiery G, Tubach F, Ricard J-D, Dreyfuss D. Initiation Strategies for Renal-Replacement Therapy in the Intensive Care Unit. N Engl J Med. 2016;375(2):122–33. doi:10.1056/NEJMoa1603017 Cited in: PubMed; PMID 27181456.

10.        Gillum DM, Dixon BS, Yanover MJ, Kelleher SP, Shapiro MD, Benedetti RG, Dillingham MA, Paller MS, Goldberg JP, Tomford RC. The role of intensive dialysis in acute renal failure. Clin Nephrol. 1986;25(5):249–55.  Cited in: PubMed; PMID 3720035.

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14.        Curtis A, Lamb C, Rao H, Williams A, Patel A. Dialysis Disequilibrium Syndrome and Cerebellar Herniation with Successful Reversal Using Mannitol. Case Rep Nephrol. 2020;20208850850. doi:10.1155/2020/8850850 Cited in: PubMed; PMID 32908738.

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