Mythen der Nephrologie debunked Ep 1: Thiazide wirken nicht bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz (Ausnahme Xipamid)

In unserer Serie “Mythen der Nephrologie & der Inneren Medizin debunked” widmen wir uns gängigen Praktiken aus dem klinischen Alltag und prüfen sie kritisch auf ihre Evidenz. Angelehnt ist diese Rubrik an die Reihe “Choosing Wisely: Things we do for no good reason“ des Journal of Hospital Medicine (https://www.journalofhospitalmedicine.com/jhospmed/choosing-wisely-things-we-do-no-reason)

Man liest in Lehrbüchern immer wieder, dass Thiazid-Diuretika (damit sind in diesem Artikel alle Substanzen gemeint, die Ihre Wirkung über eine Hemmung des Natrium-Chlorid-Cotransporters im distalen Tubulus, u.a. HCT, Chlortalidon, Xipamid entfalten) bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz ihre Wirkung verlieren – mit der Ausnahme von Xipamid, welches als einziges auch bei einer glomerulären Filtrationsrate (GFR) deutlich unter 30ml/min noch wirksam sein soll und deshalb zur sequentiellen Nephronblockade eingesetzt werden kann . Als Erklärung wird angeführt, dass Xipamid seinen Wirkmechanismus am distalen Tubulus von der peritubulären Blutseite entfalten soll, während die klassischen Thiaziddiuretika glomerulär filtriert werden, um von der tubulären Seite her ihre Wirkung entfalten, so dass bei reduzierter GFR lediglich das Xipamid uneingeschränkt an seinen Wirkort gelangt. Bei Amboss in der Lernkarte zu Thiaziden steht sogar wortwörtlich:

“Thiazide verlieren in der Monotherapie bereits bei einer GFR<50 mL/min ihre Wirkung Sonderfall: Xipamid → Wirksam auch bei Niereninsuffizienz” Quelle: https://www.amboss.com/de/wissen/Thiaziddiuretika/

Aber stimmt das überhaupt? Als 2020 für einige Wochen Xipamid in unserer Klinik nicht mehr erhältlich war, haben wir uns nach Alternativen umgeschaut. In diesem Zuge habe ich mir die Daten angeschaut, die hinter dem Dogma stecken, dass Xipamid als einziges Thiazid-Diuretikum auch noch bei  terminaler Niereninsuffizienz wirkt. Im Folgenden möchte ich euch einmal die Studienlage darstellen:

Zunächst war interessant festzustellen, dass Xipamid in den USA gar nicht zugelassen ist – wie erreichen also die Amerikaner:innen eine sequentielle Nephronblockade bei Patient:innen mit präterminaler Nierenerkrankung? Insgesamt stellte sich die Studienlage zu Xipamid bei Niereninsuffizienz unter heutigen Gesichtspunkten als sehr dürftig dar. Es gibt keine randomisierten Studien und vor allem keine head to head Studien, die die Überlegenheit von Xipamid gegenüber anderen Thiazid-Diuretika zeigen. Es gibt lediglich ein paar Fallserien und eine Studie, in der 15 niereninsuffiziente Patient:innen mit Ödemen zuerst Xipamid für 7 Tage, dann, nach einer 3-tägigen Wash-out Phase, Furosemid für 7 Tage erhielten  (1–3). Darüber hinaus gibt es eine pharmakokinetische Studie mit 10 Patient:innen mit eingeschränkter Nierenfunktion, in der eine gute natriuretische Wirkung vergleichbar mit der eines Schleifendiuretikums bei deutlich eingeschränkter Nierenfunktion (GFR<30 ml/min) gezeigt werden konnte (4). 

Für andere Thiazid-Diuretika ist die Studienlage überraschenderweise sogar besser. Es gibt einige Studien – z.T. methodisch gut gemacht – die zeigen, dass auch andere Thiazid-Diuretika bis zur terminalen Niereninsuffizienz wirken und zwar sowohl in der Kombination mit Schleifendiuretika als auch in der Monotherapie! Die wichtigsten möchte ich euch kurz vorstellen:

Eine Studie, die 1994 in Kidney International publiziert wurde, hat an einem Kollektiv von fortgeschritten niereninsuffizienten Patient:innen zeigen können, dass Butizid( =Isobutyl- hydrochlorothiazide), ein Derivat des Hydrochlorothiazids (HCT), in einer Dosis von 20mg (äquivalent zu 30 mg HCT) die diuretische u. natriuretische Wirkung von Torasemid signifikant potenziert (5). Die mittlere GFR, gemessen anhand der Inulin Clearance, betrug in diesem Kollektiv dabei nur 13 ml/min/1.73m2! Die Studie war placebokontrolliert und verwendete ein Crossover Design mit Wash-out Phase. Darüber hinaus erhielten die Patient:innen eine standardisierte Diät um die Natrium- und Kaliumaufnahme während der Studienzeit gleichzuhalten. Das gleiche konnte auch für die Kombination von HCT mit Furosemid bei niereninsuffizienten Patient:innen in mehreren kontrollierten z.T. aktuellen Studien bestätigt werden (6–9).

Knauf et al. haben an 19 Patient:innen mit einer Kreatinin Clearance zwischen 75 ml/min und 1 ml/min den Einfluss von Furosemid und HCT auf die Elektrolytausscheidung, sowohl in Monotherapie, als auch Kombination, in einem 48 Stunden Zeitraum nach Applikation untersucht (8). Dies geschah in einem standardisierten Setting in einem Crossover Design mit Wash-out Phase. Dabei nahm die natriuretische Wirkung von HCT zwar mit fallender GFR ab (ebenso die Wirkung von Furosemid) war aber auch bei GFR Werten <30 ml/min erhalten. Eine ähnliche Studie haben Knauf et al. mit dem Thiaziddiuretikum Bemetizide durchgeführt (Kreatinin Clearance hier minimal 5ml/min) und  auch hier eine erhaltende natriuretische Wirkung  bei terminaler Niereninsuffizienz gezeigt (10). Knauf et al. haben im Übrigen auch die oben zitierte pharmakokinetische Studie zu Xipamid durchgeführt (4).

Auch die blutdrucksenkende Wirkung war in den Studien trotz eingeschränkter Nierenfunktion vergleichbar mit der des Schleifendiuretikums (6,7). In einer doppelblinden Pilotstudie von 2012 haben Dussol et al. 23 Patient:innen mit CKD Stadium 4 und 5 mit einer mittleren GFR von 25 ml/min (DPTA Methode) zu 90 Tagen Furosemid oder HCT randomisiert, gefolgt von einem 30 Tage Wash-out und Crossover für weitere 90 Tage (7). Beide Substanzen erhöhten die fraktionelle Natriumausscheidung nach 90 Tagen im Vergleich zum Ausgangswert (Furosemid aber stärker als HCT). Die blutdrucksende Wirkung war bei beiden Substanzen identisch (-8 mmHg im Vergleich zum Ausgangswert).

In 2014 erschien eine größere Studie im Journal Hypertension, die den blutdrucksenkenden Effekt von 25mg Chlortalidon bei Patient:innen mit eingeschränkten GFR im Vergleich zu einer Kontrollgruppe untersuchte (11). Dabei führte Chlortalidon in beiden Gruppen zu ähnlicher Senkung des systolischen Blutdrucks um ca. 20 mmHg.


Ein aktuelles Review fasst zusammen (12):

While the old dogma for treating volume overload and hypertension in CKD recommends routinely changing from thiazide to loop diuretics when GFR falls, more recent evidence challenges that assumption. Thiazides appear promising for treatment of both volume overload and hypertension in patients with advanced kidney disease, either as a lone diuretic or in combination with loop diuretics, and therefore, consideration should be made for continuing thiazides even when GFR falls chronically or as add on therapy for uncontrolled hypertension or volume overload.”

Zusammengefasst muss man sagen, dass alle Thiazid-artigen Diuretika auch bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz wirken, und zwar sowohl in Monotherapie als auch in Kombination mit Schleifendiuretika, sodass die Aussage, dass Thiazide ab einer GFR <30 ml/min (in manchen Quellen liest man sogar <50 ml/min) nicht wirken, nicht haltbar ist!

Auch der Sonderstatus von Xipamid ist also evidenzbasiert nicht haltbar! Es ist dabei jedoch zu beachten, dass der Einsatz der Thiaziddiuretika (HCT, Chlorthalidon, Indapamid) bei einer GFR<30 ml/min bzw. einem Kreatinin >1,8 mg/dl laut Fachinformation kontraindiziert bzw. „off-label“ ist, und lediglich Xipamid als „in label“ Therapie zur Verfügung steht.


Dieser Artikel wurde reviewed von PD Dr. med. Manuel Wallbach, Abteilung Nephrologie und Rheumatologie, Universitätsmedizin Göttingen.

1.         Gold CH, Viljoen M. Xipamide in the management of renal, hepatic and cardiac oedema. S Afr Med J. 1978;54(14):569–71.  Cited in: PubMed; PMID 366781.

2.         Mihindukulasuriya J, Lee HA. Effect of xipamide in oedema of renal disease with varying degrees of renal insufficiency: a comparative trial with frusemide. Curr Med Res Opin. 1982;8(3):208–14. doi:10.1185/03007998209112386 Cited in: PubMed; PMID 6751705.

3.         Prichard BN, Brogden RN. Xipamide. A review of its pharmacodynamic and pharmacokinetic properties and therapeutic efficacy. Drugs. 1985;30(4):313–32. doi:10.2165/00003495-198530040-00002 Cited in: PubMed; PMID 3905333.

4.         Knauf H, Mutschler E. Pharmacodynamics and pharmacokinetics of xipamide in patients with normal and impaired kidney function. Eur J Clin Pharmacol. 1984;26(4):513–20. doi:10.1007/BF00542150 Cited in: PubMed; PMID 6734710.

5.         Fliser D, Schröter M, Neubeck M, Ritz E. Coadministration of thiazides increases the efficacy of loop diuretics even in patients with advanced renal failure. Kidney Int. 1994;46(2):482–8. doi:10.1038/ki.1994.298 Cited in: PubMed; PMID 7967362.

6.         Dussol B, Moussi-Frances J, Morange S, Somma-Delpero C, Mundler O, Berland Y. A randomized trial of furosemide vs hydrochlorothiazide in patients with chronic renal failure and hypertension. Nephrol Dial Transplant. 2005;20(2):349–53. doi:10.1093/ndt/gfh650 Cited in: PubMed; PMID 15615808.

7.         Dussol B, Moussi-Frances J, Morange S, Somma-Delpero C, Mundler O, Berland Y. A pilot study comparing furosemide and hydrochlorothiazide in patients with hypertension and stage 4 or 5 chronic kidney disease. J Clin Hypertens (Greenwich). 2012;14(1):32–7. doi:10.1111/j.1751-7176.2011.00564.x Cited in: PubMed; PMID 22235821.

8.         Knauf H, Mutschler E. Diuretic effectiveness of hydrochlorothiazide and furosemide alone and in combination in chronic renal failure. J Cardiovasc Pharmacol. 1995;26(3):394–400. doi:10.1097/00005344-199509000-00008 Cited in: PubMed; PMID 8583780.

9.         Wollam GL, Tarazi RC, Bravo EL, Dustan HP. Diuretic potency of combined hydrochlorothiazide and furosemide therapy in patients with azotemia. The American Journal of Medicine. 1982;72(6):929–38. doi:10.1016/0002-9343(82)90854-3

10.       Knauf H, Cawello W, Schmidt G, Mutschler E. The saluretic effect of the thiazide diuretic bemetizide in relation to the glomerular filtration rate. Eur J Clin Pharmacol. 1994;46(1):9–13. doi:10.1007/BF00195908 Cited in: PubMed; PMID 8005195.

11.       Cirillo M, Marcarelli F, Mele AA, Romano M, Lombardi C, Bilancio G. Parallel-group 8-week study on chlorthalidone effects in hypertensives with low kidney function. Hypertension. 2014;63(4):692–7. doi:10.1161/HYPERTENSIONAHA.113.02793 Cited in: PubMed; PMID 24396024.

12.       Agarwal R, Sinha AD. Thiazide diuretics in advanced chronic kidney disease. J Am Soc Hypertens. 2012;6(5):299–308. doi:10.1016/j.jash.2012.07.004 Cited in: PubMed; PMID 22951101.

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